Poeten, Chronisten, Beobachter

Momenten eine Dauer verleihen

Hintergrund

Edward Steichens 1955 in Westberlin gezeigte Wanderausstellung „The Family of Man“ inspirierte Fischer.

Die Ausstellung „The Family of Man“ ist ein umfassendes Porträt der Menschheit anhand von 503 Fotografien von 273 Fotografen aus 68 Ländern. Nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs sollte sie helfen, das Verständnis zwischen den Menschen zu fördern. Zusammengestellt von Edward Steichen und 1955 im Museum of Modern Art (MoMA) in New York erstmals gezeigt, ist die Ausstellung jetzt permanent im Schloss Clervaux in Luxemburg zu sehen. Seit 2003 ist sie zudem Teil des Weltdokumentenerbes der UNESCO.

Sieben Jahre lang (von 1953 bis 1960) fotografiert Arno Fischer scheinbar Beiläufiges und Alltägliches im vielfach noch kriegszerstörten Berlin. Seine Serie „Situation Berlin“ ist eine einzigartige, intensive Bestandsaufnahme der Nachkriegsgesellschaft – in Bildern, die sich erkennbar nicht für optimistische Darstellungen des sozialistischen Aufbaus anbieten. Die geplante Publikation zur Serie wird mit dem Mauerbau 1961 verboten.

Arno Fischer, West-Berlin, Kurfürstendamm 1957
Erbengemeinschaft Arno Fischer

Bonjour ihr süßen Zaubermäuse

Besetztes Haus in der Adalbertstraße, Berlin-Kreuzberg, Deutschland, Oktober 1990
© Nachlass Sibylle Bergemann / OSTKREUZ. Courtesy Loock Galerie

Zu den wichtigsten Vertreterinnen und Vertretern der Gruppe „Direkt“ gehören neben Bergemann und Fischer Ute Mahler und Werner Mahler, Roger Melis und Harald Hauswald. Weitere von dem „Sibylle“-Kreis unabhängig arbeitende Fotografinnen und Fotografen sind Evelyn Richter, Gundula Schulze-Eldowy, Helga Paris oder Ulrich Wüst.

Allesamt kritische Chronistinnen und Chronisten, feine Beobachter und empathische Augenzeugen mit einem unverstellten Blick auf die Wirklichkeit. „Man sollte bei einem Fotografen nicht darüber staunen, wie er gearbeitet, sondern höchstens darüber, was er gesehen hat“, beschreibt etwa Roger Melis sein Selbstverständnis.

Das Gespür für den entscheidenden Moment

Im Umfeld der Gruppe „Direkt“ entwickelt sich in den 1960er Jahren eine einzigartige Szene der künstlerischen Fotografie, die mit ihren Bildern gezielt das Menschenbild des sozialistischen Realismus unterläuft. Die Fotografen und Fotografinnen bewegen sich dabei oft an der Grenze zur Dissidenz, weshalb zahlreiche Werke erst nach 1990 veröffentlicht werden können. 

Tag Der Befreiung, 8. Mai 1965
© Roger Melis
Rummel, Berlin 1969
© Roger Melis

Die 1941 in Berlin geborene Sibylle Bergemann bringt einen ganz eigenen Stil in die Modefotografie. 1966 beginnt sie ein Studium an der Kunsthochschule Weißensee bei dem bekannten Fotografen Arno Fischer, der wenig später auch ihr Lebensgefährte wird. Nach Abschluss des Studiums arbeitet sie als freie Fotografin. „Mode ist Porträt“, befindet sie, „ein Zeitbild“, und platziert ihre Models kurzerhand in Hinterhöfen, in Fabrikhallen oder einfach am Straßenrand. 

„Mich interessiert der Rand der Welt. Nicht die Mitte.“
Sibylle Bergemann

Er wolle beim Fotografieren den Menschen nicht die Seele rauben, beschreibt Roger Melis (1940–2009) seine Arbeit. Seine Reportagefotos über den Alltag im sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat zeigen Realitäten, die das offizielle Bild häufig konterkarieren. Wie Fischer und Bergemann fotografiert auch Melis für das Modemagazin „Sibylle“ und porträtiert zudem zahlreiche ostdeutsche Künstlerinnen und Künstler wie etwa Anna Seghers, Manfred Krug, Wolf Biermann, Katharina Thalbach oder Heiner Müller. Einige seiner Porträts haben sich auch in das westdeutsche Bildergedächtnis eingeschrieben. 

Roger Melis, Porträt von Anna Seghers, 1968
© Roger Melis

Als Marx und Engels fliegen lernten

Elf Jahre lang hat der Bildhauer Ludwig Engelhardt in seinem Atelier in Gummlin auf Usedom an den Figuren von Karl Marx und Friedrich Engels gearbeitet. Sibylle Bergemann dokumentiert das Entstehen des monumentalen Denkmals von 1975 bis 1986 – von der ersten Skizze bis zum Aufbau in Ostberlin hinter dem Palast der Republik. Der Blick für den richtigen Moment gepaart mit der nüchternen Sachlichkeit Bergemanns verleiht der Serie „Das Denkmal“ eine kaum merkliche Ironie. Fast absurd wirken etwa die beiden kopflosen – weil noch nicht fertig montierten – Philosophen des Kommunismus am Strand von Usedom. 

Marx-Engels-Denkmal (für Berlin-Mitte) vor der Werkstatt des Bildhauers Ludwig Engelhardt, Gummlin, Usedom, Mecklenburg-Vorpommern, DDR, Mai 1984
© Nachlass Sibylle Bergemann / OSTKREUZ. Courtesy Loock Galerie

„(…) bat mich Ludwig Engelhardt, ich möge ihn mal in seinem Atelier auf Usedom besuchen kommen. Ich nahm die Einladung an, und so entstanden die ersten Bilder. Damals hatte er noch gar keinen offiziellen Auftrag für das Denkmal. Der kam erst später. Ich bin dann immer wieder zu ihm raus und habe die Fortschritte bei der Arbeit dokumentiert. Aber ich habe immer nur gezeigt, was dort auch wirklich vorhanden war. Ich weiß, es gibt heute viele Leute, die meinen, ich hätte mich mit dieser Serie über den Künstler oder über das Werk lustig machen wollen. Aber das stimmt gar nicht.“ 

 

Sibylle Bergemann (http://www.ralf-hanselle.de/Sibylle_Bergemann.html)