Zwischen Werkbank und Literaturzirkel

Ein Volk von Schriftstellerinnen und Schriftstellern

Schon kurz nach der ersten Bitterfelder Konferenz bilden sich in den Betrieben, in den Stadtteilen und an Schulen mehr als 300 Literaturzirkel. Jeder Zirkel wird gegen ein Honorar von einer Schriftstellerin oder einem Schriftsteller geleitet. Die finanzielle Absicherung ermöglicht es ihnen, ihren Status als freischaffende Schriftstellerinnen und Schriftsteller zu behaupten, und bietet soziale Sicherheit.

„Wir haben das Land umgekrempelt. Wir haben uns selbst umgekrempelt.“
Brigitte Reimann

Unter ihrer Anleitung verfassen die Arbeiterinnen und Arbeiter meist sogenannte Brigadetagebücher – literarisch-dokumentarische Darstellungen des sozialistischen Arbeitsalltags – und die Regale der Buchhandlungen füllen sich mit Anthologien der Arbeitertexte.

Rohrleger, Schweißer und Schreiber

Im März 1960 schreibt Brigitte Reimann an Erwin Strittmatter, der von 1959 bis 1961 1. Sekretär des Deutschen Schriftstellerverbandes ist:

 

„(…) Vorige Woche lernte ich meine Brigade – Rohrleger und Schweißer – kennen, bei der ich arbeiten werde. Ich bin sehr herzlich aufgenommen worden; der Meister ist ein guter, kluger Mensch, sein Einfluss auf die Brigade unverkennbar. (…) Unser Zirkel schreibender Arbeiter hat sich vor einem Monat zusammengeschlossen; wenigstens zwei der Kollegen sind begabt, und einer von ihnen, außergewöhnlich begierig auch auf sehr strenge Kritik, macht erstaunliche Fortschritte, seit wir mit ihm arbeiten.“

Während ihrer Zeit als Zirkelleiterin im Braunkohlekombinat Schwarze Pumpe entsteht Brigitte Reimanns Erzählung „Ankunft im Alltag“, die sich mit den Erlebnissen dreier Abiturienten in einer Arbeiterbrigade beschäftigt. Das Buch ist sehr erfolgreich und wird 1962 mit dem Literaturpreis des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes ausgezeichnet.

„Einmal im Leben zur rechten Zeit sollte man an Unmögliches geglaubt haben.“
Christa Wolf

Nicht nur der Himmel teilt sich

In ihrer Erzählung „Der geteilte Himmel“ schildert Christa Wolf die Beziehung zwischen der Studentin Rita Seidel und dem promovierten Chemiker Manfred Herrfurth, die an unterschiedlichen Lebensentwürfen zerbricht. Während Rita den im Aufbau befindlichen sozialistischen Staat unterstützen will, setzt sich Manfred nach Westberlin ab. Das Private wird politisch, das Politische privat. Der Bau der Berliner Mauer trennt das Paar schließlich endgültig.

Die Erzählung wird 1964 von Konrad Wolf mit Renate Blume und Eberhard Esche in den Hauptrollen verfilmt. Seine starken Schwarz-Weiß-Bilder erzählen nicht nur von der scheiternden Liebe des ungleichen Paares: Auch die Aufbruchstimmung der 1960er Jahre wird hier spürbar. Anlässlich des 100. Geburtstags des Kinos 1995 wird der Film von Fachleuten und Filmkritikern zu den 100 wichtigsten Filmen der deutschen Filmgeschichte gewählt.

„Könnten Sie einen wie mich lieben?“ „Ja!“ So begann ihre Geschichte.

Erst gefeiert, dann verboten

Den Aufruf zur Konferenz in Bitterfeld verfasst der Schriftsteller Werner Bräunig. Bräunig, der sich nach einer Schlosserlehre zunächst als Gelegenheitsarbeiter durchschlägt, bevor er Mitte der 1950er Jahre zu schreiben beginnt, gilt zu diesem Zeitpunkt als große Hoffnung der jungen DDR-Literatur. 

Seit 1961 arbeitet er an einem umfangreichen Roman: „Rummelplatz“. Hauptschauplatz ist ein fiktives Dorf im Erzgebirge, in dem ein Bergbaubetrieb der SAG Wismut angesiedelt ist, wo unter sowjetischer Aufsicht Uranerz abgebaut wird. Bräunig will ungeschminkt und realistisch vom Alltag der Bergleute berichten. Vier Jahre später ist der knapp 700 Seiten starke Roman fertig – Bräunigs Lebenswerk. Doch ein Vorabdruck aus dem Roman wird vom 11. Plenum des Zentralkomitees der SED heftig angegriffen. Bräunig habe die Arbeiterklasse und die sowjetischen Genossen verunglimpft, heißt es. 

Erich Honecker erkennt „schädliche Tendenzen“ – nicht nur bei Bräunig, sondern auch bei den Schriftstellern Stefan Heym, Heiner Müller und Wolf Biermann. „Rummelplatz“ wird nicht erscheinen. Erst 2007 veröffentlicht der Aufbau Verlag Werner Bräunigs Roman – mit großem Erfolg. Monatelang steht „Rummelplatz“ auf der Bestsellerliste des SPIEGEL. 

Das Ende einer Idee

Walter Ulbricht, Erster Sekretär des Zentralkomitees der SED, ausgegeben – hier im Gespräch mit dem Rundfunk- und Fernsehansager Heinz Querman auf der Bitterfelder Konferenz 1959

Das 11. Plenum im Dezember 1965 ist auch das Ende des Bitterfelder Wegs. Im Zentrum der Kritik stehen neben Schriftstellerinnen und Schriftstellern auch Musiker und Film- und Theaterregisseure, denen politische Unruhestiftung, destruktive Einstellungen und pornografische Ästhetik und damit eine negative Einflussnahme auf die Jugend vorgeworfen wird. In der Folge werden zahlreiche Filme und Theaterstücke mit einem Aufführungsverbot belegt, Bücher erhalten keine Druckgenehmigungen mehr.