Zeigen, was verschwinden wird

Das fotografische Gedächtnis des Industriezeitalters

Andreas Gursky, "99 cent"
bpk | CNAC-MNAM | Andreas Gursky, VG Bild-Kunst

Bernd und Hilla Becher haben über die Jahre das weltweit größte Fotoarchiv industrieller Bauten zusammengetragen. Dabei gehen sie systematisch wie Forscher vor. Oft fertigen sie von ein und demselben Motiv sechs, neun oder noch mehr Aufnahmen aus vorher klar definierten unterschiedlichen Perspektiven an. So ist im Laufe der Jahrzehnte nicht nur ein umfangreiches künstlerisches Werk von großer stilistischer Klarheit entstanden, sondern auch ein umfassendes Archiv einer Epoche. Mit dem Niedergang der Schwerindustrie ist auch die dazugehörige Architektur verschwunden. Viele der von den Bechers fotografierten Gebäude existieren so nicht mehr. 

Bernd und Hilla Becher nehmen zwischen 1972 und 2002 insgesamt vier Mal an der Documenta in Kassel teil. 1990 werden sie auf der Biennale von Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet. 2004 erhalten sie den Hasselblad Award – eine der höchsten Auszeichnungen für Fotografie überhaupt. Ihre Arbeiten werden in internationalen Galerien und Museen gezeigt, darunter das Museum of Modern Art in New York, der Kunstverein München und das Palais des Beaux-Arts in Brüssel. 

Hochöfen, 1963 – 1995
© Estate Bernd & Hilla Becher, represented by Max Becher; courtesy Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur – Bernd and Hilla Becher Archive, Cologne
“Wir sehen in Farbe, nicht in Schwarzweiß.”
Thomas Ruff

Was kann ein Foto zeigen?

Der Becher-Schüler Thomas Ruff hinterfragt mit seinen Arbeiten immer auch die Fotografie. Was sehen wir etwa, wenn wir ein Porträt sehen? Den Menschen? Den Charakter eines Menschen? Oder eine Projektionsfläche für unsere eigenen Bilder und Gefühle? Mit übergroßen Porträts von Menschen aus seinem Umfeld macht er Anfang der 1980er Jahre Furore. Die Aufnahmen, die in ihrer Stilistik an Passbilder erinnern, wirken allein durch das riesige Format beinahe abstrakt. Die regungslosen Gesichter werden zu Bildflächen. 

Thomas Ruff, "Portrait (Elke Denda)"
bpk / Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof, SMB, Eigentum des Landes Berlin / Thomas Ruff, VG Bild-Kunst
Thomas Ruff, "tableau chinois_03", 2019
bpk / VG Bild-Kunst

Später arbeitet Thomas Ruff auch mit vorgefundenem Material: mit Bildern, die schon gemacht und in anderen Zusammenhängen bereits verbreitet wurden. So etwa chinesische Propagandafotos aus Büchern und Zeitschriften, pornografische Aufnahmen aus dem Internet oder Fotos von NASA-Missionen, die er digital bearbeitet und verfremdet. 

Räume ohne Menschen

Candida Höfer, "Bibliothèque Nationale de France Paris XVIII"
bpk / Städel Museum / Candida Höfer, VG Bild-Kunst

Candida Höfer fotografiert Räume: Warteräume, Bahnhöfe, Kirchen. Zu ihren Lieblingsmotiven gehören Bibliotheken. Sie hat Bibliotheksräume jeder Größenordnung und jeden Alters in Europa und den USA fotografiert – darunter die Bibliothèque nationale de France, die Bibliothek im spanischen Klosterpalast El Escorial, die Morgan Library in New York, die Villa Medici in Rom und die Weimarer Anna Amalia Bibliothek vor dem verheerenden Brand 2004. Der Blick von Candida Höfer auf diese Räume ist sachlich neutral, eher forschend als gestaltend. Und fast nie ist darauf ein Mensch zu sehen. 

Das Gesetz der Serie

Zu den Sujets von Thomas Struth gehören Straßenzüge, Menschen in Museen, aber auch detailgetreue Aufnahmen von Landschaften und Wäldern oder Porträts. Er fotografiert meist mit einer Großformatkamera und in Farbe. Charakteristisch ist dabei das Serielle seiner Arbeit. So entstehen von einem Thema immer Werkgruppen, die konzeptuell einer Idee folgen.

Thomas Struth, Broad Street, New York/Wall Street, 1978
Atelier Thomas Struth

Seit 2008 setzt sich Struth auch vermehrt mit Themen wie Industrie, Forschung, Energie und Globalisierung auseinander. Er fotografiert Hightech-Labore, Spaceshuttles oder Kernfusionsreaktoren, die der Öffentlichkeit gewöhnlich nicht zugänglich sind. 2011 wird Struth damit beauftragt, das offizielle Foto des britischen Königspaares zum diamantenen Kronjubiläum im Auftrag der Londoner National Portrait Gallery anzufertigen.

“Seit der Digitalisierung des fotografischen Mediums ist eine feste Definition des Begriffs Fotografie unmöglich geworden.”
Andreas Gursky

99 Cent

Andreas Gursky, "99 cent"
bpk | CNAC-MNAM | Andreas Gursky, VG Bild-Kunst

Andreas Gursky ist einer von Michael Schmidts Schülern an der Universität-Gesamthochschule Essen, bevor er ab 1985 Meisterschüler von Bernd Becher an der Kunstakademie Düsseldorf wird. Gursky bearbeitet seine meist großformatigen Bilder seit Anfang der 1990er Jahre auch digital. Durch Montagen und Wiederholungen entstehen Fotografien von irritierender Wirkung: Räume, die vertraut scheinen, wirken irgendwie „falsch“. Gursky spielt mit unseren Sehgewohnheiten und mit dem Anspruch an die Fotografie, sie sei ein Medium, das Wirklichkeit objektiv abbilde. So verstärkt und überhöht etwa die digitale Bearbeitung seines Diptychons „99 Cent“ den Massencharakter des abgebildeten Angebots um ein Vielfaches – das Alltägliche wird abstrakt.