OST

Ein Kessel Buntes

Die Ausbürgerung Wolf Biermanns: der Anfang vom Ende

Das Alltagsleben zu Beginn der 1970er Jahre ist in der DDR von der Hoffnung auf ein Gelingen des Sozialismus geprägt. So werden die staatlichen Leistungen erhöht und zinslose „Ehekredite“ für junge Familien sowie Kinderbeihilfen eingeführt.

Die Partei beschließt auch bezahlte Schwangerschafts- und Wochenurlaube für Frauen, erhöht die Mindestrenten und senkt die Mietpreise für Neubauwohnungen. Der kostenfreie Besuch von Bildungs- und Kinderbetreuungseinrichtungen wird unter anderem durch den Bau von Kindergärten und Schulen ermöglicht.

Den Menschen geht es besser, Reisen ins östliche Ausland werden erleichtert und auch kulturell wird der Bevölkerung immer mehr geboten. Aus dem Berliner Friedrichstadtpalast wird die erste Sendung von „Ein Kessel Buntes“ ausgestrahlt, die sich großer Beliebtheit erfreut, zumal die Zuschauer immer auch mit dem einen oder anderen Gast aus dem westlichen Ausland überrascht werden. 

Ein Kessel Buntes im Palast der Republik mit Moderatorin Helga Hahnemann
Bundesarchiv, Bild 183-1989-1101-414 / Franke, Klaus / CC-BY-SA 3.0

Und dann das: „Die zuständigen Behörden der DDR haben Wolf Biermann, der 1953 aus Hamburg in die DDR übersiedelte, das Recht auf weiteren Aufenthalt in der Deutschen Demokratischen Republik entzogen.“ Mit diesem Satz verkündet die DDR-Nachrichtensendung „Aktuelle Kamera“ am 16. November 1976 die Ausbürgerung des regimekritischen Liedermachers.

Biermann befindet sich zu diesem Zeitpunkt auf einer Konzertreise in Westdeutschland. Die Ausbürgerung von Wolf Biermann beendet die Hoffnung auf eine gesellschaftliche Liberalisierung in der DDR und löst 1976 eine riesige Protestwelle aus.

Wolf Biermann Als Preußischer Ikarus, Berlin 1973
© Roger Melis
Wolf Biermann während seines Auftritts in der Sporthalle in Köln am 13.11.1976. Es war sein erstes Konzert auf einer bundesdeutschen Bühne seit Ostern 1965
picture-alliance/ dpa | Wilhelm Bertram

Bekannte DDR- Schriftsteller wie Stephan Hermlin, Christa Wolf, Stefan Heym oder Heiner Müller, aber auch der Halleʼsche Pop-Art-Künstler Wasja Götze protestieren mit einem offenen Brief an die DDR-Führung. Über 100 weitere prominente Bürgerinnen und Bürger unterschreiben den Aufruf in den folgenden Tagen. Im ganzen Land erscheinen über Nacht Proteste auf den Häuserwänden.

Wolf Biermann und Schriftsteller Günter Grass während der TV-Sendung "Literatour" 1970
picture-alliance / Copyright KPA Archivalcollection
Von links: der Liedermacher Wolf Biermann, die Sängerin und Schauspielerin Eva-Maria Hagen, ihre Tochter, die Sängerin Nina Hagen und der DDR-Regimekritiker Ralf Hirsch, aufgenommen am 9. Februar 1988. Mit einer Informations- und Solidaritätsveranstaltung haben am 9.2.1988 im Hamburger Kulturzentrum "Fabrik" die Musiker Wolf Biermann, Nina Hagen, und die Theologin Dorothe Sölle auf die politische Lage in der DDR und das Schicksal der in der vergangenen Woche ausgereisten und ausgewiesenen DDR-Bürgerrechtler aufmerksam gemacht. An der Veranstaltung nahm auch der kurz zuvor aus der DDR-Haft in die Bundesrepublik entlassene Regimekritiker Ralf Hirsch teil
picture-alliance / dpa | Michael Probst
Wolf Biermann und Freunde. Berlin, 1967. Robert Havemann, Helga-Maria Novak, Fritz Rudolf Fries, Kurt Bartsch, Sarah und Rainer Kirsch, Wolf Biermann, Gerd Loschütz, Christoph Borkowski (v.l.n.r.). Das Bild entstand bei einem Kurzbesuch von Helga-Maria Novak in Ostberlin, für den kurzfristig alle Dichterfreunde (und Roger Melis) zusammengetrommelt wurden.
© Roger Melis

Die Regierung reagiert darauf mit Härte. Zahlreiche Kulturschaffende werden unter Druck gesetzt oder sogar zur Ausreise gezwungen. Bis 1981 verlassen viele namhafte Künstlerinnen, Künstler und Schriftsteller die DDR. Unter ihnen Manfred Krug, Eva-Maria und Nina Hagen oder Armin Müller-Stahl. Die Ausbürgerung Biermanns läutet den Anfang vom Ende des SED-Regimes ein.

Schon vor der Ausbürgerung Wolf Biermanns unterlaufen unangepasste Künstlerinnen und Künstler, die sich zur DDR und zum Staatssozialismus bekennen, darunter Gerhard Altenbourg und Carlfriedrich Claus, die offiziellen Vorgaben und suchen nach Freiräumen. Statt unverfänglicher Stillleben und Landschaften entwickeln sie eine expressive Formensprache oder sprechen Themen an, die tabu sind. 

Gerhard Altenbourg, Titelblatt a aus Mappenwerk: Über dem Strom ein Gezweig. zu Gedichten von Johannes Bobrowski
bpk / Kupferstichkabinett, SMB
Carlfriedrich Claus, Mit Wechselbeziehung zwischen Stirnhirn und Sonnengeflecht. Blatt 56 aus der Mappe "Aggregat K"
bpk / Sprengel Museum Hannover, Sammlung Niedersächsische Sparkassenstiftung im Sprengel Museum Hannover / Herling/Herling/Werne

Andere, wie die Chemnitzer Produzentengalerie und Künstlergruppe Clara Mosch, sind in Westdeutschland bis in die 1990er Jahre hinein praktisch unbekannt. Clara Mosch wird 1977 von den Künstlern Carlfriedrich Claus, Thomas Ranft, Michael Morgner, Gregor-Torsten Schade und Dagmar Ranft-Schinke gegründet. Der Name der Gruppe ergibt sich aus den Anfangsbuchstaben ihrer Nachnamen. Mit Aktionen, Editionen und Happenings bilden sie ein Gegengewicht zum staatlich reglementierten Kunstbetrieb.

Gruppenbild vor der Galerie Clara Mosch in Adelsberg: Thomas Ranft, Gregor-Torsten Kozik (Schade), Dagmar Ranft-Schinke, Carlfriedrich Claus, Michael Morgner; Fotografie von Ralf-Rainer Wasse

Erst seit der Wiedervereinigung beginnt man allmählich, ihre Werke und künstlerischen Lebensläufe systematisch zu erforschen und ihnen neben den offiziellen und bekannten Vertretern der DDR-Kunst nachträglich einen Platz in der Kunstgeschichte einzuräumen.